Was ist los auf dem deutschen Recruiting-Markt?
- Julian Ziesing
- May 8
- 6 min read
Ein Quick-Check mit Wolfgang Brickwedde - inklusive 3 Szenarien für die Zukunft von KI im Recruiting

Wolfgang Brickwedde
Tausendsassa im deutschen und internationalen Recruiting:
Director des Institute for Competitive Recruiting (ICR), jährlicher Bühnen-Host auf der Zukunft Personal, ATS-Experte, Veranstalter der Recruiting-Trends-Eventreihe, Berater - und mehr.
Es gibt Zeiten, da muss man ein paar mal öfter in die News gucken, sonst verpasst man hier einen Zeitenwechsel oder da eine Revolution (im Zweifel eine technische).
Ich habe schon kurz darüber nachgedacht, eine neue Blog-Reihe ins Leben zu rufen namens "Was sich diese Woche NICHT geändert hat". Fast könnte man meinen, die Liste des Konstanten würde wöchentlich kürzer, und es wäre ein seelischer Spa, auch mal zu hören, worauf man sich noch verlassen kann.
Doch bis dahin lohnt es sich, dem Markt mal öfter die Temperatur zu messen. Und sei es nur, um festzustellen, dass die Welt noch steht und wo sich Türen öffnen, sie neu zu gestalten. Ein guter Anlass sind da Analysen nach Events.
Habe ich kürzlich Jo Diercks zu den Themen Daten, Diagnostik, KI und die HR Edge gefragt, hat das Wort heute Wolfgang Brickwedde, der gerade seine vier Recruiting-Trend-Tage absolviert hat. Was ist los, was gibt es Neues, und worüber spricht sein (beachtliches) Netzwerk?
Julian: Wolfgang, stell dich doch zur Sicherheit nochmal vor, auch wenn kaum denkbar ist, dass dich jemand nicht kennt.
Wolfgang: Doch, das passiert. Ich bin Leiter des ICR, also des Instituts für Competitive Recruiting. Ich mache das jetzt seit 15 Jahren.
Früher habe ich Recruiting bei Philips und später bei SAP verantwortet, unter anderem europaweit.
Heute bringe ich unter anderem Entwicklungen aus den USA, UK oder den Niederlanden ins deutschsprachige Recruiting. Da ist oft ein Gap von fünf bis zehn Jahren, beim Selbstverständnis, bei Tools, bei Methoden.
Ich mache - neben Beratung von Arbeitgebern bei der Optimierung ihres Recruitings - Trend-Scouting, Studien, Benchmarks, Konferenzen, zeichne Jobportale und Bewerbermanagementsysteme aus, um Transparenz in den Markt zu bringen.
Julian: Was viele vielleicht nicht wissen: Wie genau sieht dein Geschäftsmodell aus? Du gibst ja viele Inhalte frei zugänglich raus. Wovon lebst du?
Wolfgang: Gute Frage. Ein Teil sind die Studien, die ja Daten generieren. Das ist die Basis für die Beratung der Unternehmen, wie sie ihr Recruiting verbessern können.
Da gibt es z.B. einen Recruiting Fitness Check, ein Recruiting Reifegradmodell, mit dem Arbeitgeber herausfinden, wo sie (auch im Benchmark) stehen, und wie sie die nächsten Schritte machen können, gemäß dem ICR Motto „Let’s take your recruitment tot he next level“
Julian: Und du hast gerade wieder deine Recruiting-Trends-Konferenz gemacht, vier Tage lang! Wie schaffst du es, so viele Leute so lange bei der Stange zu halten?
Wolfgang: Ich weiß gar nicht, ob alle wirklich durchgehend dabei sind, aber manche schon, die schreiben mir das sogar. Die Idee ist, die ganze Bandbreite des Recruitings abzubilden: von Employer Branding über Technologie bis hin zu Best Practices. Und ich lade Leute ein, die was zu erzählen haben, möglichst auch neue Gesichter. Keine Sales-Pitches, sondern echte Einblicke.
Die Situation ist besonders
Julian: Cases sind mir auch lieber als halbwegs verschleierte Verkaufsshows. Jetzt beobachtest du den Arbeitsmarkt ja schon ziemlich lange. Ist die Lage gerade besonders, oder kommt einem das nur so vor?
Wolfgang: Sie ist besonders. Normalerweise geht es auf oder ab. Jetzt aber ist es diffus: Ein Drittel der Unternehmen baut Personal ab, ein Drittel stellt weiter ein wie immer, ein Drittel baut sogar auf.
Dazu Fachkräftemangel, KI, Rezession, und trotzdem steigt die Arbeitslosenquote kaum und die Erwerbstätigenzahl sogar an. Das ist ungewöhnlich. Ich glaube, später schauen wir vielleicht zurück und sagen: Das war noch eine ganz gute Zeit.
Julian: Klingt ja schon fast ominös. Und international? Du hast ja schon gesagt, dass Deutschland etwas hinterherhinkt.
Wolfgang: Ja, in vielen Bereichen. Die Niederlande haben einen flexibleren Arbeitsmarkt, mehr Teilzeit.
Der britische Arbeitsmarkt funktioniert ganz anders: Wer einen Job sucht, geht oft direkt zu einer Agentur. Für Unternehmen ist es dadurch viel schwerer, direkt Bewerbende zu gewinnen.
Und in den USA... nun ja, da ist gerade alles sehr speziell.
Was fehlt? Die Basics, das Know-How.
Julian: Allerdings. Was fehlt Arbeitgebern hierzulande am meisten? Ist es Mut? Wissen? Geld?
Wolfgang: Oft fehlt einfach Problembewusstsein. Viele denken noch, sie schalten eine Anzeige und dann klappt das schon. Wenn nichts passiert, wird halt nochmal geschaltet. Es fehlt Wissen darüber, was heute eigentlich möglich ist, über Kanäle, Ansprache, Employer Branding.
Ich mache manchmal Quickchecks bei Stellenanzeigen, und da denke ich: Haben die in den letzten zehn Jahren nichts mitbekommen? Das sind Basics. Und klar, kleine Unternehmen haben oft nicht mal eine HR-Person, da fehlt das Know-how schlicht.
Julian: Ja, und dabei reden wir gar nicht über KI, sondern über ganz einfache Dinge.
Wolfgang: Genau. Zum Beispiel: sinnvoller Jobtitel, einfaches Bewerbungsformular ohne Registrierungspflicht, Basics, die trotzdem oft falsch laufen.
Von der Kostenstelle zur Investitionsfrage
Julian: Auf deiner Konferenz hast du über Szenarien gesprochen, also verschiedene mögliche Zukünfte fürs Recruiting. Was hast du da vorgestellt?

Wolfgang: Dort habe ich drei Szenarien für die Zukunft der Recruiter vorgestellt:
Automatisierung und KI ersetzen viele Aufgaben im Recruiting, wodurch der Bedarf an Recruitern um 30–40 % sinkt.
Recruiter arbeiten effizienter mit Automatisierung und KI zusammen. Das entlastet sie so weit, dass sie wieder normal arbeiten können, ohne überlastet zu sein.
Der Bedarf steigt sogar, etwa durch Internationalisierung und demografischen Wandel. Wenn z. B. Produktionsstandorte verlagert werden - vielleicht weil jemand plötzlich Zölle eingeführt hat - braucht es Talent Intelligence und internationale Recruiting-Kompetenz. Dann wird Recruiting zur Investitionsfrage und nicht mehr zur Kostenstelle.
Julian: Soll man generell mehr probieren und experimentieren?
Wolfgang: Kommt drauf an. Bei strategischen Entscheidungen macht es auch Sinn, strategisch und planvoll vorzugehen. Fehlentscheidungen können teuer werden.
Nehmen wir das Beispiel aus Szenario 3: Mit einem Talent-Intelligence-Tool lässt sich früh prüfen, wo es überhaupt die passenden Fachkräfte gibt. So kann man Standorte vergleichen und fundierte Entscheidungen treffen, statt erst auszuprobieren und dann festzustellen, dass es nicht funktioniert.
Ein Modell, in dem man keine ATS mehr braucht?
Julian: Ja, und dann stellt sich auch die Frage: Wo bleibt da der Mensch?

Wolfgang: Im Massengeschäft wird vieles automatisiert.
Ich kann mir gut ein Modell vorstellen, in dem KI-Agents direkt miteinander kommunizieren. Man sagt seinem eigenen Agenten, was man möchte, der klärt das mit dem Agenten der Firma ab – und wenn es passt, geht’s weiter. Wenn nicht, sucht der Agent automatisch nach anderen Optionen. In so einem System bräuchte man keine Jobbörse oder kein Bewerbermanagement-System mehr, weil die Vermittlung direkt zwischen den Agents abläuft.
FedEx in den USA hat schon tausende Fahrer komplett ohne menschliche Interaktion eingestellt. Das ist wie bei Banken, vor 15 Jahren hätten wir nicht geglaubt, dass wir sie so selten brauchen.
Wenigstens eine Disziplin, in der wir noch Weltmeister sind
Julian: Und wie sieht’s bei den Bewerbermanagementsystemen aus? Was erwarten Arbeitgeber aktuell?
Wolfgang: In Deutschland stehen der Datenschutz und die Kommunikation mit den Bewerbenden weiterhin bei der Wichtigkeit ganz vorne.
Was sich je nach Arbeitsmarktlage verändert, ist die Nutzerfreundlichkeit. Mal liegt der Fokus stärker auf Recruiter-, mal auf Bewerberseite bei der Wichtigkeit der Funktionen.
Strategisch hat sich bei den Unternehmen wenig verändert: KI wird zwar nicht aktiv eingefordert, ist aber inzwischen in vielen Bewerbermanagement-Systemen integriert, etwa durch LLM-Funktionen. Einige Systeme, darunter auch beesite Recruiting, schneiden dabei sehr gut ab.
Perspektivisch wird diskutiert, wie Agents in solche Systeme eingebunden werden könnten. Viele Recruiter haben dafür noch nicht das nötige Know-how, aber wenn Anbieter einfache, kontrollierbare Lösungen integrieren, könnte sich das durchsetzen. Auch wegen der regulatorischen Anforderungen, die für Transparenz und Nachvollziehbarkeit sorgen.

Julian: Ja, der Datenschutz - wenigstens eine Disziplin, in der wir Deutschen noch Weltmeister sind. Und diese KI-Agents, die du erwähnt hast, könnten die irgendwann ATS-Systeme ersetzen?
Wolfgang: Wenn die Anbieter es nicht selbst einbauen, vielleicht. Aber viele Recruiter haben nicht die Kompetenz, so ein System selbst aufzusetzen. Wenn ATS-Anbieter das integrieren, bleiben sie relevant. Sie müssen halt auch System of Record bleiben, das bleibt Pflicht, auch regulatorisch.
Kritisch, wenn Indeed mehr Daten will
Julian: Und was ist mit Jobbörsen und Plattformen? Gibt es etwas, das du besonders spannend findest?
Wolfgang: Am Ende zählt: Kommt was raus? Viele Plattformen sehen gut aus, liefern aber nichts. Die Weiterempfehlungsrate eines Jobportals ist eine harte Währung: für eine bestimmte Zielgruppe kann ich mir als Arbeitgeber die Weiterempfehlungsrate der anderen Arbeitgeber anschauen. Das ist ein guter Indikator, welche Portale performen.
Julian: Gibt’s Entwicklungen, die du kritisch siehst?
Wolfgang: Ja, z. B. wenn Indeed mehr Daten will, etwa zu Vorstellungsgesprächen oder Einstellungen. Das ist aus Arbeitgebersicht heikel. Die Plattformen verschieben das Machtverhältnis. Wenn die Daten beim Anbieter bleiben, wird’s irgendwann teuer.
Julian: Und bei den Preismodellen?
Wolfgang: Da tut sich viel: von 30 Tage online zu Cost per Click oder aktuell Cost per started Application oder demnächst Cost per Application. Zukünftiges wäre "Cost per Hire". Das ist eine signifikante Risikoverschiebung vom Arbeitgeber zum Anbieter. Funktioniert aber nur mit ausreichend Daten und Erfahrung.
Julian: Zum Abschluss: Was gibst du den Lesern mit?
Wolfgang: Einfach ausprobieren. ChatGPT, Copilot, LLMs, sich rantasten. Nur wer’s selbst testet, kann beurteilen, ob das, was ein Tool anbietet, ausreicht oder ob man lieber das Original nutzt. Wer ein Gefühl für Qualität bekommt, trifft bessere Entscheidungen.
Julian: Ich finde auch, dass eine Veränderung besser greifbar wird, wenn man sie tatsächlich selbst mal in die Hand nimmt und erlebt. Danke dir, Wolfgang. Das war ein super spannend Überblick.
Wolfgang: Danke dir auch, gerne wieder!
-> Und hier für Interessierte ein Link zum Recruiting-Fitness-Check des ICR